Am Ende aller Träume

Warum die festliche Eröffnung des Marstallplatzes in München ein Trauerspiel ist

Wenn heute Abend um 20 Uhr in München beim Festakt zur Wiedereröffnung des Marstallplatzes der Triumphmarsch aus „Aida” geblasen wird, dürfen sich die Münchner durchaus ein wenig in die Höhe getragen fühlen, denn was sie erleben, ist wahrlich nicht alltäglich: Ihre Stadt bekommt etwas geschenkt, was unserem modernen Bewusstsein nach eigentlich gar nicht existieren dürfte: einen geräumigen Festplatz, der mitten im Kulturquartier, ja direkt an der Prachtstraße der Altstadt liegt und doch auf wunderbare Weise der innerstädtischen Hektik entzogen ist. Der Frauenchor der Staatsoper dürfte die offizielle Stimmung des Tages also recht genau wiedergeben, wenn er bei der heutigen Festspielaufführung von Mahlers dritter Symphonie auf dem Marstallplatz die Strophen anstimmt: „Es sungen drei Engel einen süßen Gesang, / Mit Freuden es selig im Himmel klang.”

Doch so verständlich der Jubel des Staatsopernpersonals ist – schließlich hat das Nationaltheater im Rahmen der Baumaßnahmen am Marstallplatz ein riesiges Probengebäude spendiert bekommen –, so berechtigt ist die Enttäuschung derer, die das Nebeneinander hässlich misslungener Glaskisten hinter der Oper an den großen Raum- und Architekturvisionen des Barocks und des Klassizismus’ messen, oder auch nur mit den Hoffnungen vergleichen, die seit der Hofgarten-Diskussion der achtziger Jahre am Marstallplatz geweckt worden sind. Ja wer sich auf die architektonischen Details des neuen Quartiers einlässt, wer sieht, wie Klenzes nobel instrumentierte Hofreitschule von dumpfer Investorenarchitektur bedrängt wird, wie die Rundbogenarkaden des Klenzeschen Stallgebäudes im gläsernen Sockel eines banalen Bürobaus schneewittchenartig eingesargt sind, der muss die jetzige Investoren-Fassung des Platzes sogar als Katastrophe empfinden.

Die Weichen für die Maximalbebauung der Platzränder wurden schon gestellt, als die Bayerische Staatskanzlei nach ihrer Teilniederlage am Hofgarten zum Ausgleich ein höheres Baurecht am Marstallplatz forderte und die Max-Planck-Zentrale auf das enge Grundstück nördlich der Reithalle drückte. Die Architekten Graf Popp Streib konnten in ihrem Entwurf für den Verwaltungsbau zwar die Fluchtlinien der benachbarten Bauten geschickt aufnehmen, doch heimisch wurde ihr hermetisch sich abkapselnder, an den Grundstücksrändern schroff emporsteigender dunkler Glaskubus in der historischen Umgebung nie. Der zum Marstallplatz hin geöffnete Rechteckhof nimmt zwar formal Bezug auf Klenzes Ordnung, bleibt aber mit seiner uninspirierten Rasen- und Plattengeometrie und mit dem Getümmel des Kaffeehausmobiliars ein toter, echoloser Raum, der auf den langgestreckten Platz nicht hinauszuwirken vermag. Diese Schwäche dürfte einer der Gründe dafür gewesen sein, dass die Architekten, die am anderen Ende das Pendant bauten, die von Klenze geforderte Symmetrie gar nicht erst zur Kenntnis nahmen.

Bürkleins Vollstrecker

Das Unglück hat dort aber schon begonnen, als das Finanzministerium seiner neuen Lieblingsbeschäftigung nachging und, wie an anderen historisch hochempfindlichen Stellen der Innenstadt, etwa am Alten Hof, dem Ort der ältesten Stadtresidenz, einen Investorenwettbewerb ausschrieb, der die staatlichen Gewinnchancen ausloten sollte. Hier im kritischen Bereich zwischen dem denkmalgeschützten Bürklein-Bau an der Maximilianstraße und dem Denkmal Hofreitschule / Marstall-Annex wurde den Investoren ein kräftig überhöhtes Baurecht zugesichert, wenn sie mit eigenen Mitteln ein Probengebäude für die Staatsoper auf dem überlassenen Grundstück errichteten. Doch mit einer ungehörigen Ausweitung der Nutzflächen allein ließ sich das Unternehmen nicht finanzieren. Also machte man sich über die Denkmäler her, die im Ausschreibungstext noch wortreich geschützt gewesen waren. Vom Bürklein-Bau blieb nur die vorderste Folie der Fassade stehen. Dahinter koppelte man die Säulenhalle der Hofstallungen von der Reitschule ab und stülpte, alle Achsenordnungen vernichtend, den Flügel eines Bürobau-Karrees grobschlächtig über das Ganze. Zuvor mussten die Säulenstellungen allerdings monatelang auf Kosten der Steuerzahler in die Luft gehalten werden, als unter ihnen die Tiefgarage ausgehoben wurde. Sieht man sich die als Ganzes verschluckte, sichtlich schlecht verdaute Säulenhalle im Glasdarm des Neubaus an, kommen einem die Tränen: Die dreischiffige Halle ist zur Restaurantdekoration verkommen: Die zugetünchten Gewölbe sind nur noch eine Art Baldachin für ein primitives tägliches Grillritual.

Die Pläne für das gesamte Areal stammen vom Berliner Architekturbüro Gewers Kühn und Kühn (GKK), das nach dem Gestaltungswettbewerb vom Investor mit der Realisierung beauftragt wurde. Die Grundidee von GKK, die heterogenen Funktionen des Komplexes auf drei individuelle Baukörper zu verteilen – einen historisch kostümierten „Bürklein”-Riegel entlang der Maximilianstraße, einen Würfel für das Probengebäude und ein Karree für die Büronutzungen –, ist durchaus zu loben. Die angenehm verschnittenen Resträume zwischen den verschobenen Solitären haben etwas Einladendes, Ungezwungenes. Ein Stückchen Großstadt tut sich in der hochverdichteten Zone hinter den Spitzbögen der Bürklein-Attrappe auf. Doch schaurige architektonische Details trüben den positiven Ersteindruck. Auf der Rückseite des Baus an der Maximilianstraße simuliert eine dunkle, flache Glaswand bauliche Geschlossenheit, doch hinter dem Glasschild ist all das versteckt, was anderswo nicht unterzubringen war.

Eine geradezu erbarmungswürdige Hilflosigkeit im Rhythmisieren und Beleben von Fassaden offenbart der Würfel des Probengebäudes, der über eine Brücke an das Nationaltheater angeschlossen ist, zum Platz hin sich aber beleidigend hässlich aufbläht. Zwei Sockelgeschosse, deren Fensterfolgen unmusikalisch verzappelt sind, und zwei Hochgeschosse, die mit einem ähnlich humpelnden Fensterrhythmus dagegenhalten, umschließen eine finster opak verglaste, drei Stockwerke hohe Zone, die in einer unerträglich misslungenen Bewegung aus dem Baukörper heraustritt, im Süden stolz wie ein Bauch sich vorwölbt, im Norden aber wie ein Schild den Platz dominiert. Warum Proberäume, die striktes Kunstlicht brauchen, hinter einen solchen Glasvorhang gepackt werden, ist nicht zu begreifen. Freuen kann sich darüber allenfalls der Künstler Olafur Eliasson, auf den die plumpe Glasummantelung direkt zulief. Seine eben genehmigte gigantische Licht- und Spiegel-Installation wird allerdings die Reste der historischen Ordnungen am Marstallplatz endgültig brechen; sie wird das Probengebäude zum Ziel aller Blickachsen machen und den namengebenden Bau von Klenze zum „ Seitenflügel” degradieren.

Von Klenzes großer Vision eines zur Residenz geöffneten Ehrenhofs ist also bei der jetzigen Gestaltung des Platzes nichts übriggeblieben. Statt dessen stehen sich der hässlichste Neubau Münchens, ein paar zufällig konservierte alte Bäume und ein historisches Gebäude, das zwischen dem auftrumpfenden Hi-Tech-Mobiliar wie eine antike Kommode wirkt, kommunikationsunfähig gegenüber. Angesichts solcher Dissonanzen vergeht einem die Laune, die Mahler im fünften Satz seiner Dritten beschwört und man hält sich lieber an die Nietzsche-Zeile aus dem vierten Satz: „Weh spricht: Vergeh!”

GOTTFRIED KNAPP

Das Probengebäude der Staatsoper streckt seinen glasgepanzerten Bauch auf den Marstallplatz hinaus.